Sehr geehrter Herr Professor Tolan,
am 6. Juni 2019 haben die Regierungen von Bund und Ländern den „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ beschlossen. Durch diesen sollen die zuvor über den „Hochschulpakt“ vergebenen Gelder verstetigt und ab 2021 den Hochschulen dauerhaft zur Verfügung gestellt werden (mehr dazu hier). „Mit der dauerhaften Förderung ab 2021 soll“ laut BMBF „insbesondere unbefristetes, mit Studium und Lehre befasstes Hochschulpersonal ausgebaut werden.“
Am 26.11.2020 haben wir mit einer Aktion vor dem Präsidium auf diese Forderungen aufmerksam gemacht und zugleich auf die vielen prekären, befristeten Arbeitsverhältnisse an unserer Universität (Göttinger Tageblatt und HNA berichteten): Laut Informationen des Personalrats der Universität Göttingen waren im Jahr 2019 87,6% der wissenschaftlich Beschäftigten befristet beschäftigt (Personalratsinformation, Februar 2020, S. 1), und auch im Bereich der Verwaltung ist davon auszugehen, dass die Zahl der befristeten Stellen der bundesweiten Entwicklung entsprechend gestiegen ist.
Präsident Jahn erklärte im Göttinger Tageblatt zu diesem Thema: „Ein wichtiges Merkmal der Personalstruktur einer akademischen Einrichtung ist die Balance zwischen befristeten Qualifikationsstellen und unbefristeten Funktionsstellen.“ Diese Aussage lässt uns angesichts einer Befristungsquote im wissenschaftlichen Mittelbau, die in Göttingen sogar nochmals deutlich über dem ohnehin hohen Bundesdurchschnitt von 80,4% (vgl. DGB Hochschulreport, November 2020, S. 12) liegt, ratlos zurück.Wie kann ein Verhältnis von 12,4% zu 87,6% eine Balance darstellen?
Jahns Aussage: „Die überwiegende Mehrheit des befristeten wissenschaftlichen Personals ist zur Qualifizierung beschäftigt, wovon die meisten Promovierende sind.“ Diese Aussage erweckt den Eindruck, die eigene Qualifizierung sei der hauptsächliche oder gar einzige Bestandteil der Tätigkeit dieser befristet beschäftigten Wissenschaftler*innen. Beschäftigte auf „Qualifikationsstellen“ oder sogenannten „Projektstellen“ in der Verwaltung übernehmen vielfach dauerhafte Aufgaben, z.B. in der Lehre, der Studiengangskoordination, der Beratung von Studierenden oder im Bereich Digitalisierung. Diese Tätigkeiten dienen nicht der eigenen Qualifikation, sondern sie sichern den grundsätzlichen Betrieb der universitären Lehre und Forschung ab. Für die eigenen Qualifizierungsarbeiten (Dissertation, Habilitation) kann häufig nur außerhalb der Arbeitszeit geforscht und geschrieben werden, da die vielfältigen anderen Aufgaben, die für das reibungslose Funktionieren einer Hochschule unerlässlich sind, viel Zeit und Energie verlangen.
Laut Statistischem Bundesamt hat sich seit dem Jahr 2000 die Zahl befristeter Stellen in der wissenschaftlichen Arbeit an den deutschen Hochschulen mehr als verdoppelt – bei einem nahezu gleichbleibenden Anteil an Dauerstellen (s. Freya Gassmann et al. (2020)). Der Ausbau der Universitäten in den 2000er Jahren ging, wie unschwer zu erkennen ist, mit der Etablierung der Befristung als Normalzustand an den deutschen Universitäten einher.
Dabei ist längst klar, dass die Befristung von Stellen weder politisch gewollt noch ein effizientes Mittel zur Erhöhung der Arbeitsqualität ist. Durch Befristungen erhöht sich der Druck auf die Beschäftigten, die sich u.a. immer wieder Gedanken um eine Anschlussbeschäftigung machen müssen. Die geforderte Flexibilität schränkt das eigene Leben ein. Die psychische Gesundheit sowie Familienleben und -planung leiden unter der unsicheren Situation. Befristung erhöht die Abhängigkeit des Personals von seinen Vorgesetzten, wodurch unbezahlte Mehrarbeit zum Normalfall wird: Laut aktuellen Erhebungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes leisten 78% der befristet Angestellten an den Hochschulen mehr als 10 unbezahlte Überstunden pro Woche. Das System der Befristung macht die Mitarbeiter*innen, die in Projekten und an Lehrstühlen, in der Verwaltung, Lehre und Forschung tätig sind, leichter regierbar, es erzeugt Abhängigkeiten und unterhöhlt die Autonomie und die Möglichkeit zur Lebensplanung.
Sie, sehr geehrter Herr Professor Tolan, werden zu einer Zeit Präsident unserer Universität, in der dieser Aspekt besonders deutlich hervortritt, und uns ist selbstverständlich bewusst, dass Sie dies nicht verursacht haben: Durch Fehlkalkulationen der vergangenen Jahre werden derzeit in unterschiedlichsten Bereichen der Universität „Personalmaßnahmen“ durchgeführt, indem Menschen entlassen und Verträge nicht verlängert werden, und diese treffen – natürlich – in erster Linie Menschen mit befristeten Verträgen. Die Unsicherheit der Stellen in der universitären Arbeit hat diese zu Spekulationsgegenständen gemacht. Unsere Arbeit wurde zum Einsatz im Wettbewerb um die Mittel der Exzellenzinitiative, und als die Universität Göttingen diese nicht erhielt, trugen nicht diejenigen, die dieses Rennen beschlossen hatten, die Konsequenzen, sondern wir.
Wir sehen den Zukunftspakt als eine Chance alte Fehler nicht zu wiederholen. Wir fordern das Präsidium auf, gemeinsam mit Vertreter*innen des Personalrats und den gewählten Vertreter*innen des wissenschaftlichen Mittelbaus und der MTV-Gruppe im Senat und den Fakultätsräten eine Strategie zu entwickeln, um die Mittel des „Zukunftsvertrages Studium und Lehre“, wie vom BMBF gefordert, für den Ausbau unbefristeter, sicherer Arbeitsstellen in Lehre und Verwaltung einzusetzen. Machen Sie diesen Prozess, die Entscheidungen und den Mitteleinsatz transparent!
Dauerstellen für Daueraufgaben! Zum Wohle aller!
Uni Göttingen Unbefristet