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Alles kein Problem? Eine Auseinandersetzung mit den Argumenten des Uni-Präsidiums

Der Interimspräsident der Universität Göttingen, Reinhard Jahn, hat anlässlich unseres offenen Briefs an das niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur im Kontext der Kampagne „Frist ist Frust“ seine Ansichten zum Problem der massenhaften befristeten Beschäftigung in der Wissenschaft dargelegt. Da aus seinem Schreiben hervorgeht, dass er über die Situation der befristet Angestellten und deren Argumente nicht richtig informiert ist, erlauben wir uns einige Erläuterungen.

Sonderweg an deutschen Universitäten

1. Die Vorstellung, eine Entfristung des wissenschaftlichen Personals erfolge in der Regel erst mit dem Ruf auf eine Professur, zeugt von mangelndem Einblick in die transnationale Situation: So ist es in Europa, etwa in den skandinavischen Staaten, Frankreich oder Großbritannien längst üblich, den größeren Teil des wissenschaftlichen Personals auch ohne Professur zu entfristen. Die Tendenz geht teils eher in Richtung einer Abschaffung der Professur. Eine Universität, die eine Internationalisierung von Forschung und Lehre als einen wesentlichen Teil ihrer Identität begreift, darf diese Entwicklungen schlicht nicht ignorieren. Unterstellt die Annahme, die Qualifizierung der Besten erfordere die Befristung bis zur Professur aber nicht, in all diesen Staaten existiere keine wissenschaftliche Qualität? Was rechtfertigt, innerhalb einer europäischen und globalisierten Forschungslandschaft an einem ‚deutschen Sonderweg‘ festzuhalten?

Gerontokratisches System

2. In Deutschland sind laut dem Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (buwin.de) derzeit über 90% des wissenschaftlichen Personals unter 45 Jahren befristet (und ca. 80% aller Altersgruppen) – in den übrigen Berufen sind es laut statistischem Bundesamt unter 10%. Das legt nahe, von einem wissenschaftlichen Prekariat zu sprechen, welches genau in dieser Hinsicht in besonders hohem Ausmaß diskriminiert wird. Eine solche Ungleichbehandlung ist nicht zu rechtfertigen. Wenn erst Jahrzehnte nach dem üblichen Zeitpunkt eine Entfristung möglich ist, erstarrt die Wissenschaft zu einem gerontokratischen System, in dem nur eine Minderheit von Professor*innen über Sicherheit und Macht verfügt. Dies ist einer demokratischen Gesellschaft nicht angemessen und zeugt darüber hinaus nicht von Generationengerechtigkeit. Ist die deutsche Universität, wie Max Weber schon vor über 100 Jahren schrieb, etwa doch bis heute eine „geistesaristokratische Angelegenheit“ geblieben? Wie möchte sie unter solchen Voraussetzungen einer deutlich gestiegenen Zahl von Studienanfänger*innen gerecht werden?

100% Bezahlung für 100% Arbeit

3. Wir begrüßen es, wenn Promovierende auf sozialversicherten Stellen beschäftigt werden. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz erlaubt eine Befristung allein dann, wenn der Qualifizierungsanteil überwiegt. Wenn es aber nicht nur an der Universität Göttingen inzwischen die Regel ist, dass Promotionsstellen zu 50 bis 100% der geleisteten Arbeitsstunden nicht der Qualifizierung dienen, sondern Daueraufgaben in der Lehre, Forschung und Verwaltung zum Inhalt haben, womit sie Jahn zufolge „für die akademische Forschung unverzichtbar“ sind, ist eine Befristung kaum zu rechtfertigen. Warum sollte die Universität Göttingen sich ihrer unverzichtbaren Mitarbeiter*innen entledigen?

Tenure-Track-Professuren sind keine Lösung

4. Für promovierte Mitarbeiter*innen wäre eine „Einführung von Tenure-Track-Juniorprofessuren“ in Jahns Augen ein „Ansatz, um den Karriereweg hin zur Professur berechenbarer zu machen“. Bis dato impliziert dieser Weg jedoch eine Phase von mindestens acht Jahren von der Promotion bis zur Entfristung (mindestens zwei Jahre bis zur Berufung, sechs Jahre bis zur Entfristung). Bei einem durchschnittlichen Abschluss der Promotionsphase mit Mitte 30 (laut buwin.de) würde eine Entfristung damit nach wie vor erst im fünften Lebensjahrzehnt erreicht. In allen anderen Berufsgruppen muss ein Arbeitsvertrag nach spätestens zwei Jahren entfristet werden und es erscheint uns höchst unplausibel, Wissenschaftler*innen in einem solchen Ausmaß schlechter zu stellen. Zudem ist gerade im internationalen Vergleich völlig unklar, warum eine Professur das Ziel der beruflichen Laufbahn sein muss (s. Punkt 1).

Es bleibt dabei: Entfristung ist notwendig!

Angesichts all dessen erscheint es uns mehr als gerechtfertigt, eine regelhafte Entfristung des wissenschaftlichen Personals in Forschung, Lehre und Verwaltung zu fordern (bei einem Lehrdeputat von maximal 8 SWS). Die Befürchtung, eine solche würde der wissenschaftlichen Qualität schaden, zeugt in unseren Augen von einem geringen Verständnis einer modernen Personalstruktur innerhalb eines transnationalen Wissenschaftssystems – und von mangelndem Vertrauen in die Fähigkeiten der Universitätsmitarbeiter*innen. Würde die Qualität ihrer Arbeit sich nicht ohne eine derartige Unsicherheit und die daraus folgende Bürokratie stetig neuer Drittmittelanträge und Neubewerbungen noch verbessern? Und wäre es für internationale Wissenschaftler*innen nicht viel attraktiver, sich in Göttingen anzusiedeln, wenn es für sie – wie in ihren Herkunftsländern – die Perspektive eines Verbleibs im deutschen Wissenschaftssystem gibt?

Zum Wohle Aller – Uni Göttingen Unbefristet!